Im Wald der Zeichen.

Zur Bildsprache in den zeichnerischen Arbeiten von Katrin Ströbel

Was unterscheidet die poetische Sprache von der Normalsprache? Sie lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf ihre eigenen Mechanismen, zeigt wie sie selbst zeichenhaft wird, Bedeutung erzeugt, beweist ihre Möglichkeiten, den Leser an der Hand zu nehmen und mit ihren Mitteln zu verwirren oder auf Pfade zu führen, die man ohne sie nicht gehen würde. Die poetische Sprache verdoppelt nicht, sagt nicht einfach, was der Fall ist, sondern ist Ausdruck dessen, was ohne ihre Existenz nicht vorgestellt wäre. Doch das poetische Spiel gelingt nur, indem die Differenz zum gewöhnlichen Gebrauch der Zeichen ausgespielt wird.

Ob sich diese Überlegungen auf die Arbeit mit Bildern, mit bildlichen Zeichen, auf bildnerische Arbeit übertragen lassen, ist unsicher. Schon die alltägliche Verwendung von Bildern von jener künstlerischen oder poetischen scharf zu unterscheiden, ist schwierig. Doch gerade über diesem Versuch der Abgrenzung kann sich künstlerische Arbeit entspinnen. Das gewöhnliche, das alltägliche Bild wäre jenes, das offensichtlich abbildet in einer Weise, dass wir die komplizierten Operationen übersehen, die zu leisten sind, wenn ein räumlicher Sachverhalt, ein zeitlicher Vorgang auf eine Fläche projiziert wird. Ein poetisches Bild würde sich von solcher banalen Abbildlichkeit unterscheiden. Doch die Grenzen sind schmal, denn ist ein Wort noch ein Wort, wenn es nichts bezeichnet, ein Bild noch ein Bild, wenn es nichts abbildet?

Katrin Ströbel verlässt in ihren Arbeiten kaum je die mimetische, die abbildende Dimension, und schon gar nicht verzichtet sie auf die Möglichkeit der illusionistischen Suggestion von Raum. Doch hat sie sich von den üblichen Koordinatensystemen gelöst. Der perspektivische, vom Rahmen geöffnete Kastenraum als Handlungsort spielt ebenso wenig eine Rolle wie die Farbe - jenes seit jeher als allzu wohlfeil betrachtete Mittel zur Erzeugung von Wohlgefallen durch materiellen Glanz, aber auch zur Erzeugung der Illusion von Lebendigkeit (so die Bedeutung von "colore" bei den Venezianern der Renaissance im Gegensatz zur Prävalenz des "disegno" bei den Florentinern). Selbstdie einfache Schattierung ist unterlassen zugunsten der einfachen, fast immer unmodulierten Linie, die als Umriss Flächen bezeichnet.

Schon die Unfarbigkeit verbindet die Zeichnung mit der Welt der (Schrift)zeichen. Doch sind die gezeichneten Zeichen von Katrin Ströbel stets illusionistische Bilder, zumindest fungieren sie als Zeichen für Räumlichkeit, die in der Wahrnehmung (Lektüre) der Zeichnungen sich zur Illusion verdichtet. Durch die Führung der Linie wird die eine umrissene Fläche, in den früheren Arbeiten akzentuiert durch Abgrenzung im Ton, von anderen Flächen unterschieden zur Ebene, gekippt zum Element im Raum, das je auch als Zeichen für einen Gegenstand, z. B. das Blatt einer Zimmerpflanze, entsteht. Dessen Einheit jedoch wird im fortschreitenden zeichnerischen Prozess in Frage gestellt. Der Gegenstand ist nur Ausgangspunkt für die sich verselbständigende Zeichnung, indem das zeichnerische Zeichen für den Gegenstand verflochten wird mit anderen zu einem Dickicht von Linien, die ihre eigene unverwechselbare Struktur haben.

Dieses Verfahren der vorangehenden Reduktion und anschließenden Amplifikation macht den Prozess der Zeichenbildung und Wahrnehmung modellierbar. Den Vorgang des Zeichenfindens hat Katrin Ströbel in Reihen von Tageszeichnungen als Übung vorgeführt. Doch das so oder anders gefundene bildhafte Zeichen ist nur die Vorstufe für den nächsten Prozess der zeichnerischen Verflechtung, die das Abbildhafte, die Gegenstandsreferenz nur noch als Erinnerung mit sich führt. Es geht schließlich darum, auf die einem zeichnerischen Zeichen für einen Gegenstand seine spezifische Struktur abzuhorchen, um sie dann lebendig werden zu lassen. Wie wenn man eine Wortfolge rhythmisch lange genug wiederholt oder eine reimende Gedichtstrophe und plötzlich die Bedeutung verfliegt (oder wenn in einer fremden Sprache in dieser Weise klingende Verse, Sprichwörter gesungen werden, wie in der Videoarbeit "Les traversées" von Katrin Ströbel), so verselbständigt sich der Prozess der Zeichenbildung im Muster, ohne sich aber semantisch ganz zu entleeren. Und plötzlich entstehen Räume, die in der normalen Realität nicht mehr räumlich vorstellbar sind - "Systemfehler" - die Figur kippt an einer Stelle, Muster und Grund verflechten sich, ohne sich zu verwirren. Damit gibt das Gezeichnete seine Referenz auf den normalen Raum preis und behauptet seine eigenen Räumlichkeiten.

Überhaupt aber fehlt Katrin Ströbels Zeichnungen der koordinatenkontrollierte dreidimensionale Umraum, der ihre Zeichen auf den banalen Boden der Tatsachenwelt stürzen ließe. Nicht nur ihre Teppichmuster dürfen an den weißen Decken und Wänden der Galerie haften, schweben vor weißem Grund gleich dem einzelnen Wort, der einzelnen Zeile im Gedicht, die nur in der Strophe aufgehoben auf dem spärlich beschrifteten weißen Blatt schwimmt. Und wiederum werden der real vorhandene Raum (die Flächen) und die Illusion der Zeichnung gegeneinander ausgespielt. Offensichtlich entstehen solche Gebilde schrittweise im Prozess. Es wird eine Regel angenommen, die dann fortgeführt und möglichst konsequent eingehalten wird. Mit zunehmendem Fortschreiten einer Arbeit können Schwierigkeiten auftauchen, es gibt schwierige Stellen, Bruchlinien, manchmal (selten) entstehen gar Fehler, die keine "Systemfehler" sind, sondern auf ein an dieser Stelle ungelöstes Problem verweisen. Korrekturen sind in den Wandzeichnungen kaum möglich. Der Fehler muss also verhüllt, überspielt werden. Es ist ein Zeichenprozess, der in der Betrachtung der Arbeiten zum oszillierenden Wahrnehmungsspiel wird, zum Sehen von Räumen als räumlichen Beziehungen von Zeichen zueinander.

Das klingt nach einem formalen Spiel, asketischer Zeichnungsexerzitie. Doch verliert Katrin Ströbel den Referenten nicht aus dem Auge: Die Zeichen verweisen auf die Orte, an denen sie gefunden wurden. Die Zeichnungen entstehen aus Zeichen, die nicht erfunden sind, sondern die Katrin Ströbel an bestimmten Orten antrifft, findet. Sie entstehen aus "signes trouvés", die ihr zugefallen sind. Sie sucht und sammelt sie wie die Surrealisten einst Gegenstände, "objets trouvés", sammelten als "objets à réaction poétique", auratische Gaben einer rätselhaften Dingwelt, Objekte, auf welche die Seele aus unerklärten Gründen impulsiv zu reagieren scheint. Und natürlich entspringt das Sammeln von Objekten ebenso wie das Zeichnen von Zeichen, auch und gerade von unverständlichen, aber offensichtlich prägnanten, etwas bestimmtes meinenden, eine bestimmte Stimmung artikulierenden Bildzeichen dem Versuch, zu verstehen oder ein Verstehen vorzubereiten. Wenn der Wissenschaftler seine Proben sammelt, um ihnen in seinem Labor ein Gesetz abzuhorchen, eine These zu bestätigen, so besteht die künstlerische Strategie des Sammelns von Objekten oder Zeichen von Objekten oder Zeichnungen von Zeichen darin, die von diesen Dingen ausgehende Befremdung nicht aufzulösen, sondern auszunutzen als eine Quelle zur Irritation und zum Aufmerksamwerden auf noch nicht Gesehenes und nicht Gewusstes.

Es ergibt sich hieraus, dass die Arbeiten von Katrin Ströbel stets aus einer bestimmten Ortserfahrung entstehen und häufig sich anlässlich der Ausstellung wiederum mit einem neuen Ort - dem Ort der Ausstellung - unlösbar verbinden. Jedem Ort wird seine bestimmte Räumlichkeit zugestanden; ganz buchstäblich führt jede Ausstellung vor, dass man an diesem jeweiligen Ort bestimmte Dinge sieht, dass bestimmte Perspektiven sich aufdrängen, aber auch dass jeder Ort seine eigenen Symbole entwickelt, eigene Zeichenstrukturen ausbildet. So können aus der Wahrnehmung von Orten und ihrer visuellen Sprache neue Zeichen gewonnen werden, Orte werden sehend gelesen, ohne dass sie schon verstanden sein könnten.
Befremdende Orte (die Atmosphäre einer evangelischen Kirche im Hospitalhof) oder fremde Orte (Marseille) sind naturgemäß auch aus formalen Gründen besonders interessant für solche zeichnende Erkundung. Was da zu sehen ist, kann vom Fremden nicht als alltäglich erfahren werden - weil es fremd ist. Damit öffnet sich der Weg zur poetischen Erfahrung, indem Selbstverständlichkeiten, Verständnisroutinen gar nicht zum Tragen kommen. Gleichwohl scheinen Katrin Ströbels Auseinandersetzungen mit dem religiösen Milieu eines evangelischen Gemeindezentrums ebenso wie die Zeichnungen und Videoarbeiten aus Marseille von der Vermutung getragen, dass das fremde Zeichen, der bloße Schriftzug, der Klang einer Sprache doch mehr an Substanz zu übermitteln vermögen, als man gemeinhin annimmt. Die Struktur selbst spricht, oder sie kann in der eigenen Sprache sprechend gemacht werden, wenn es gelingt, sie in ihrer nicht selbstverständlichen Gestalt wahrzunehmen. Unverstandene Zeichen übermitteln Anregungen zu neuen Erlebnissen und neuen Zeichen, welche die eigene Sprechweise wie von alleine in der Aneignung des Fremden hervorbringt.

Es scheint darum zu gehen, für Augenblicke vor lauter Bäumen und Blättern den Wald aus dem Blick geraten zu lassen, um das Oszillieren der Wahrnehmung zwischen Befremdung und Vertrautheit. Was der Funktion eines alltäglichen Bildes hinderlich wäre - die Bildstörung, welche die Aufmerksamkeit von der Referenz auf die Figur selbst lenkt - zeichnet das poetische Bild aus.

Prof. Dr. Hubert Locher ist Direktor des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg und Professor für Geschichte und Theorie der Bildmedien an der Philipps-Universität Marburg

Text veröffentlicht in: Life should be stereo, 2005

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