Bilder als Knollen

Text zur Ausstellung "Wilde, Kartoffeln", Kunstmuseum Reutlingen, 2016

Die Kartoffel und die Druckgraphik – beide haben es nicht leicht. Auch wenn die Kartoffel heute in ganz Europa angebaut wird, ist sie eigentlich ein Exot. Es waren die Spanier, die die sie in den 1530er-Jahren in den Anden als Lebensmittel der Indios kennenlernten. Bis sie die Knolle jedoch aus Südamerika mitbrachten, vergingen fast vier Jahrzehnte. Erst 1570 gelangte sie schließlich in die Alte Welt. Tatsächlich begegneten ihr ihre Entdecker mit großer Skepsis, sahen sie die Kartoffel doch als Speise für arme und niedere Leute an. Auch ihr Vegetationszyklus gab Rätsel auf, denn sie vermehrte sich nicht wie andere Pflanzen mit Samen: Doch wie kann aus nur einer unterirdisch eingesetzten, unansehnlichen Knolle gleich ein ganzes Netzwerk anderer Kartoffeln entstehen, die noch dazu austreiben und wieder eingepflanzt werden können?

Außerdem befand sich die Kartoffel aus wissenschaftlicher Sicht in gefährlicher Gesellschaft. Der Schweizer Botaniker Gaspard Bauhin (1560-1624) hatte sie 1596 der Familie der Nachtschattengewächse zugeordnet, wozu zwar auch die Tomate und die Paprika gehören, aber auch die Tollkirsche, das Bilsenkraut und die Alraune und damit giftige Mitglieder der Flora, von denen man besser die Finger lässt (von Essen ganz zu schweigen). „Dieses Gesamtbild gemahnt an Teufelswerk,“ wie Larry Zuckerman in seiner kenntnisreichen und kurzweiligen „Geschichte der Kartoffel, Von den Anden bis in die Fritteuse“ die Vorbehalte gegenüber dem Gewächs zusammenfasst. Da half es auch nicht, dass die zunehmende Verbreitung der Kartoffel zu weniger Hungersnöten führte, die Mangelernährung eindämmte, und die Knolle vielseitige Verwendung in der Küche von Kochen, Braten, Backen und Frittieren fand. Bis heute haftet ihr immer noch etwas Tumbes und – im Zeitalter von Low-Carb – Ungesundes an: Menschen, die sich wenig bewegen, werden abschätzig als Couch Potatoes bezeichnet.

Was die Druckgrafik angeht, so lassen sich gewisse Parallelen zur geringen Wertschätzung finden, die auch der Kartoffel entgegengebracht wurde und wird. Trotz einer enormen Bandbreite an technischen Verfahren wird auch die Druckgrafik immer noch als eine eher mindere und bodenständig-antiquierte Kunstform angesehen. Ihre Möglichkeit zur Vervielfältigung macht sie zu einer attraktiven Einnahmequelle, da sie es Künstlerinnen und Künstler erlaubt, einzelne Blätter günstiger als eine Zeichnung oder ein Aquarell anzubieten, durch ihre Reproduzierbarkeit im Ganzen dafür aber mehr an dem gleichen Motiv zu verdienen. So setzte Paul Klee beispielsweise dezidiert auf Druckgraphik, „um einen breiten Kaufabsatz zu ermöglichen,“ wie Susanne M.I. Kaufmann in ihrer Untersuchung zum druckgraphischen Werks des Künstlers betont. Druckgraphik also als eine Art Kartoffel-Kunst, die das Überleben sichert?
Und dann kommen Kartoffel und Druckgrafik natürlich in einem Verfahren zusammen: dem Kartoffeldruck. Diese Methode ist im Bereich des spielerisch-kindlichen Bastelns angesiedelt und findet sich bezeichnenderweise in keinem seriösen Handbuch künstlerischer Drucktechniken. „Dabei ist der Kartoffeldruck eine Technik, die sehr einfach zu lernen und umzusetzen ist und dabei mit einfachsten Mittel und wenig Aufwand innerhalb kürzester Zeit zu sehr dekorativen Ergebnissen führt,“ so beschreibt ein Blog zu Kunst- und Textildrucken begeistert seine Vorzügen.
Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten ist es wenig verwunderlich, dass auch Katrin Ströbel und Monika Nuber Kartoffel und Druckgraphik in ihrer Ausstellung im Städtischen Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen zusammen betrachten. Denn tatsächlich: Nutzpflanze und Kunstmedium hängen noch enger zusammen als erwartet. Die Künstlerinnen haben bereits 2014/15 am selben Ort die Präsentation „Ping Pong“ erarbeitet, bei der sie auf Blättern des reichen druckgraphischen Museumsbestands mit eigenen Bildern reagiert haben. Ein paar dieser Werke finden sich auch in der neue Ausstellung wie beispielsweise das Blatt „Almabtrieb“ (um 1918) von Philipp Bauknecht, dessen expressionistische Struktur der Landschaft Monika Nuber genommen und vergrößert hat („Almabtrieb“, 2014). Unter dem Titel „Wilde, Kartoffeln“ geht es Nuber und Ströbel aber nun eher darum, das Potential der Gattung Druckgraphik auszuloten, indem sie ganz verschiedene Techniken verwandt haben. Neben klassischen druckgrafischen Verfahren wie Siebdruck, Holz- oder Linolschnitt benutzten sie ebenfalls kunstferne Methoden wie den Druck mit Moosgummi (in dem Blatt „Arabic Love Story“, von 2016). Auch einige selbst entwickelte, unorthodoxe Formen kamen zum Einsatz (wie der Abklatsch eines Kohlkopfes oder von unaufgeblasenen Sexpuppen) – und natürlich der Kartoffeldruck. Für die dreiteilige Arbeit „Things Fall Apart“ (2016) und das Blatt „Kartoffelaugen, schlafend“ (2016) hat Ströbel sich der Technik angenommen. Dazu gesellt sich in der Ausstellung treffend das Bild „Kartoffeldruck“ (1990) von Thomas Schütte aus der Sammlung des Hauses.
Der Parcours der Präsentation orientiert sich an der Architektur des Kunstmuseums. So steht jede der drei Etagen unter einem Motto, das einen Assoziationsraum für die dort zu sehenden Arbeiten eröffnet. Das erste Stockwerk bildet mit „Wilde, Kartoffeln“ den Auftakt, dann folgen „Herz & Finsternis“ und zuletzt „Haut : Zelt“. Inhaltlich spiegelt sich in diesen Begriffspaaren die unterschiedlichen Themenkomplexe der Künstlerinnen zwischen postkolonialer Sicht auf das Andere und ethnologischem Blick auf heimatliche Bräuche wider. Dass diese Perspektiven nicht weit auseinanderliegen, macht natürlich wieder die Kartoffel deutlich, die – auch wenn ursprünglich ein „wildes“ Gewächs aus Fernen Ländern – inzwischen längst als hiesige, kultivierte Ackerfrucht gilt (wobei der Globalisierung folgend die im Supermarkt angeboten Sorten dieser Tage vielfach aus Ägypten kommen – selbst solche mit dem Zertifikat Bio).
Zugleich entsprechen die Titel der dialogisch-dynamische Arbeitsweise von Nuber und Ströbel bei diesem Projekt, spielen die beiden doch diesmal auch „Ping Pong“ mit sich selbst: Da hängt neben Monika Nubers „Südlicher Sternenhimmel auf Schneidebrett“ (2015) das Blatt „Pandoras Kiste“ (2016) von Katrin Ströbel. Das eine Bild zeigt weiße Punkte auf einer schwarzen und ovalen Fläche, die an das nächtliche Firmament erinnert, das andere einen aufgeklappten Umzugskarton, der Außen mit dem Namen der Figur aus der griechischen Mythologie beschriftet wurde, dessen Inneres aber ebenfalls Tiefschwarz ausgefüllt ist. Dadurch ergibt sich ein Spiel mit Gegensätzen inhaltlicher und formaler Art: dem weiten und unendlichen All steht ein kleiner Behälter gegenüber, Himmel trifft auf Erde (schließlich kam über die geöffnete Büchse der Pandora alles Leid auf die Welt), ein schwarzes Rund antwortet auf eine rautenartige, ebenfalls dunkle Fläche.
Am deutlichsten zeigt sich dieser kollaborative und spontane Aspekte der Ausstellung von Nuber und Ströbel aber in der Gestaltung: Die Wände von jedem der drei Kapitelräume sind mit Tapetenbahnen beklebt, die von den Künstlerinnen hergestellt wurden. In ihnen überlagern sich Motive aus dem jeweils eigenen Repertoire der beiden oder werden munter zur Kollision gebracht. An diesem Vorgehen zeigt sich auch, dass Ströbel und Nuber nicht an der Art der Reproduzierbarkeit von Bildern interessiert sind, bei der ein Motiv im Sinne einer Auflage gleichbleibend wiederholt wird. Ihnen geht es eher darum, Bildgegenstände neu miteinander zu kombinieren, im Druck zu verändern, farblich zu variieren und dadurch den vielfältigen Einsatz eines Motivs sowie dessen Bedeutungsspektrum darzustellen. So kann ein Stück Tapete des ersten Stockwerks zum Hintergrund für einen Strauß von Heilkräutern umfunktioniert werden, wie dies Monika Nuber in dem Blatt „Pflanzen“ (2016) macht. Wenn die Struktur der Äste eines Baumes gespiegelt wird, verwandelt sie sich in Wurzelwerk (ebenfalls von Nuber: „Baum“, 2016). Zugleich kann der Druckstock des Baumes so zusammengestellt werden, dass sich die Gestalt des menschlichen Nervensystems ergibt („Mann“, 2011). Dieser Variationsreichtum gilt auch für Schriftzeichen, wenn etwa Katrin Ströbel die in Schreibschrift verfassten Worte „The Horror“ (2016) vertikal so oft über- und nacheinander setzt, dass die Buchstabenfolge dem Muster einer Schlangenhaut gleicht. Und damit offenbart sich eine weitere Verwandtschaft von Druckgraphik und Kartoffel: Die Motive von Katrin Ströbel und Monika Nuber gleichen in der Ausstellung dem verzweigten Netzwerk eines Kartoffelstrauchs, bei dem die Bilder ähnlich den Knollen austreiben und sich aus sich selbst entwickelnd immer weiter fortpflanzen.

Sven Beckstette

Text veröffentlich in: Wilde, Kartoffeln, Kunstmuseum Reutlingen, 2016

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