L´autre côté

„Ich strich am Kai entlang und las einen nach dem anderen die Namen der Boote, die dort festgemacht waren. […] Nur an einem Aero II, das mich an Luftkrieg erinnerte, ging ich unleutselig vorüber.“ 1

Die Flucht vor den vorrückenden Nationalsozialisten und die Aussicht auf einen Neubeginn außerhalb Europas führten Walter Benjamin 1940 in die Hafenmetropole Marseille – die letzte Station des Philosophen, ehe er sich an der spanisch-französischen Grenze das Leben nahm. Der Algerier Ahmed, den Katrin Ströbel in ihrer Videoarbeit l’autre côté (Die andere Seite) befragt, schlug den entgegengesetzten Weg ein. Doch auch für ihn bildet Marseille, die „nördlichste Stadt Afrikas“, den momentanen Endpunkt seiner Flucht aus der Heimat. Mit dem Abstand mehrerer Jahre, die Ahmed illegal in Frankreich verbrachte, beschreibt er Algerien als ein Land, das es so nicht mehr gibt und vielleicht nie gab; geprägt von Kindheitserinnerungen und Anekdoten einer besseren Zeit. Nüchtern schildert er den Abschied von der Mutter und den desillusionierenden Alltag in Frankreich. Der zweite Teil der Arbeit beruht auf einem Gespräch mit dem Senegalesen Mohamed, der von der illegalen Überfahrt seines jüngeren Bruders in einer Piroge nach Europa berichtet. Dieser finanziert seitdem mit dem Verkauf schwarzgebrannter CDs in Spanien den Lebensunterhalt der gesamten Familie. Die Sorge um den kleinen Bruder klingt in dem Interview ebenso an wie das vage Bild eines Europa, das auf den Schilderungen anderer basiert. Es sind zwei gegenläufige Perspektiven, welche die Künstlerin vereint: Die des Immigranten in Europa und die des Zurückgebliebenen in Afrika, die jeweils die andere Seite zu reflektieren versuchen, ver(un)klärt durch die nostalgischen Erinnerungen an die Heimat bzw. die Vorstellungen eines Landes, das man selbst nie betreten hat. Katrin Ströbel hat beide Gespräche mit Aufnahmen des Meeres hinterlegt – eine Demarkationslinie zwischen Scheitern und Hoffen, Vergangenheit und Zukunft. Als Projektionsfläche ist das Meer seit jeher ein Topos der Literatur und bildenden Kunst. Nicht zuletzt daraus nähren sich die Verheißungen der Fremde diesseits wie jenseits des Mittelmeeres. In ihrer Serie bitim-réew (Wolof: Fremdes Land) untersucht Katrin Ströbel die Bedingungen und Bedingtheit des Reisens, das sich ebenso aus touristischer Neugier auf das Exotische speist wie durch wirtschaftlich-politische Zwänge motiviert ist. Auf Postkarten verknüpft sie gefundene oder eigene Bilder mit kurzen Zitaten, die in einigen Fällen stärker, in anderen lose miteinander korrespondieren. Sätze wie „Mali ist ja viel afrikanischer“ oder „J’ai entendue qu’en Europe, il y a des gens qui cherchent à manger dans les poubelles“ (Ich habe gehört, dass es in Europa Menschen gibt, die im Müll nach Essbarem suchen) zeugen von Stereotypen und missglückten Annährungsversuchen an die Kultur des anderen, jedoch stets auch von unerfüllter Sehnsucht und der unbezwingbaren Hoffnung auf ein neues Leben.

Annika Plank war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kunstmuseum Stuttgart und arbeitet seit 2011 in der Abteilung Bildung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.

Text veröffentlicht in: El Dorado, 2009

1 Walter Benjamin, Selected Writings. Vol. 2, Part 2, 1931-34, ed. by Michael W. Jennings et al Harvard University Press 2005, p. 676, (1932).

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