Die Hand setzt die Sprache frei.1

Zur Funktion der Zeichnung im Werk von Katrin Ströbel

Handzeichnung, Handschrift, Handwerk: Mit den Händen werden Dinge geschaffen, nützliche Dinge, schöne Dinge, Meisterwerke. Wer als Künstler eine eigene Handschrift aufzuweisen hatte, genoss bereits in der Antike Anerkennung. Heute ist das anders: Die Künstler verbergen das Handschriftliche, das Subjektive, zugunsten eines konzeptuell gebändigten, subjektiven Blicks, der die Erscheinungen der Welt neu und anderes abtastet. Gleichwohl gibt es Künstler, für die das Zeichnen mit der Hand keine lästige Übung darstellt, sondern so etwas wie einen Transit-Bereich eröffnet, in dem Gesehenes neu verhandelt werden kann. Dies gilt auch für Katrin Ströbel, die Graffiti, Typografie, Werbung, also Worte zeichnet.

Aber warum solchen komplizierten Verläufen nachgehen? Der Archäologe und Anthropologe André Leroi-Gourhan hat daraufhin gewiesen, dass der Ursprung der bildenden Kunst mit dem der Sprache eng verbunden ist und damit auch mit der Schrift als solcher.2 Dabei betonte er, dass es sich in beiden Fällen um Abstraktionen handelt. Die Schrift wie die steinzeitlichen Zeichnungen sind symbolische Umsetzungen und nicht Abbild der Realität. Leroi-Gourhans Thesen gehen sogar noch viel weiter, sie versuchen dem Geheimnis der intellektuellen Entwicklung des Menschen auf die Spur zu kommen, die seiner Meinung nach in der engen Verbindung von Auge und Hand liegt, von der Motorik der Hand und ihrer visuellen Kontrolle.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf entpuppt sich die Nähe zwischen Typographie und Zeichnung im Werk von Katrin Ströbel nahezu als Notwendigkeit. Ströbels Interesse an den Übergängen zwischen Sprache und Bild manifestiert sich besonders deutlich in ihrer Beschäftigung mit Graffiti, orientalischen Ornamenten und der arabischen Schrift. In dem Video „Rasim“ ist der Blick des Betrachters eingeladen, im Zeitraffer der Entstehung einer linearen Zeichnung beizuwohnen, in der Kalligraphie und Ornament zu einem Labyrinth der Zeichen verschmelzen, zu einem verknäulten Muster, das den Kalligraphen selbst zu überwuchern droht.

Man könnte meinen, dass solche Arbeiten aus theoretischen Überlegungen heraus entstanden sind. Und sicher wird eine Künstlerin, die sich im Rahmen einer Doktorarbeit mit der Rolle von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst auseinandersetzt, nicht komplett von Erkenntnissen der Semiotik abstrahieren können. Ströbels Werk zeigt jedoch, dass es ihr prinzipiell um ein Ineinandergreifen intellektueller Durchdringung und künstlerischer Wahrnehmung geht. So begleitet sie auch ihre 2004 begonnene akademische Arbeit mit Zeichnungen, die - auf einer bildlichen Ebene - die historischen Fakten ironisieren und die Situation der Autorin spiegeln.

Die Vermittlungsfunktion der Zeichnung zum Gedachten korrespondiert im Werk von Ströbel mit einer Vermittlungsfunktion zum Gesehenen und Erlebten. Mit den 70 Zeichnungen beispielsweise, die in Marseille entstanden sind (les mille et une choses, 2004), dokumentierte die Künstlerin Orientierungspunkte in einer ihr zunächst fremden Stadt. Die flüchtig wahrgenommen Architekturfragmente, Werbetafeln oder Alltagszenen ergaben, umgesetzt in Zeichnungen, eine Art „Mapping“, mit der die Künstlerin ihre eigene Wahrnehmung spiegelte.
In anderen Werkkomplexen wie „Les Bateaux“, „import export“ und den „Marokkanischen Gesprächen“ lässt die Künstlerin die Zeichnung auf andere Weise als Medium der Vermittlung agieren. Während eines dreimonatigen Stipendium-Aufenthalts in Marokko etwa suchte die Künstlerin Kontakt zu Kollegen, um in Verbindung zu treten mit anderen Traditionen und gesellschaftlichen Voraussetzungen künstlerischer Arbeit. Ihre Fragen rankten sich um ein altes Problem: Gibt es eine universale Bildsprache, die über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg verstanden werden kann? Amina, Hassan, Jamila, Myriam, Younes und Safaa haben sehr differenzierte und lesenswerte, persönliche Antworten gegeben, die in einem kleinen Katalog abgedruckt sind. Nach den Gesprächen reflektierte Katrin Ströbel ihre Eindrücke in Zeichnungen, von denen sich die interviewten Künstler jeweils eine aussuchen durften.
Katrin Ströbel hat sich über den, zunächst als akademische Annäherung gedachten, Zusammenhang von Schrift und Bild dafür sensibilisiert, aus vorgefundenen Parolen, visuellen Eindrücken oder Situationen Themen und neue künstlerische Ansätze zu entwickeln. In Marokko war es die von außen kaum sichtbare, schwierige Situation zeitgenössischer Künstler, die sie erhellen wollte. En passant kamen westliche Vorurteile zum Vorschein. So berichtet Hassan von seiner Bestürzung, als er in Frankreich von der allgemeinen Vorstellung erfuhr, in seiner Kultur herrsche ein Bilderverbot. Er hatte dies als angehender Künstler an der Kunstschule von Tetouan nie so erlebt. Dort galten die Alten Meister der westeuropäischen Kunstgeschichte als Vorbilder einer zeitgenössischen Kunst.

In dem Projekt „import export“ sind es die in Frankreich üblichen, hauchdünnen, bunten Plastiktüten, die Anlass und Material einer großen Wandarbeit werden. Das Thema die Vermischung der Kulturen, ihre Abgrenzungen und Transformationen in einem klassischen Einwanderer-Land. Die Tüten, die ungefüllt leicht davon fliegen, machte sie zum Bildträger unterschiedlichster Codes. Verpackungsaufschriften exotischer Waren, Parolen in kyrillischer Schrift, Straßenszenen, Plakatwerbung, fremdartige Ornamente oder aber das Cover eines ins Arabische übersetzten Asterix-Heftes spiegeln einen Kosmos, wie ihn die Künstlerin während eines sechsmonatigen Aufenthalts in Paris wahrgenommen hat. Flüchtige Eindrücke, die sie fotografisch dokumentierte, hat sie umgesetzt in reale Zeichnungen auf einem potentiell flüchtigen Träger. Importierte Waren stehen für importierte Anschauungen, die auf exportierte Erfahrungen des Fremden stoßen. Gemeint ist etwa die Lektüre der Künstlerin, die sie über Buchcover in die bunte Vielfalt integrierte, etwa Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ oder „Die deutsche Kolonialgeschichte“ von Winfried Speitkamp.

Das Werk von Katrin Ströbel ist weit komplexer als es hier darstellbar ist. Die Migranten, die sie wahrnimmt sind nicht nur die Migranten, die von Süden nach Norden unterwegs sind. Es sind auch die Nichtsesshaften, wie es im Deutschen sachlich heißt, die Vögel oder aber die Schiffe, die die Rhône passieren. Sie alle sind wie die flüchtigen Eindrücke, aus denen wir unser Weltbild formen, die als Grundlage der Orientierung dienen. In der mehrteiligen Papierarbeit „Les Bateaux“ versammelt die Künstlerin eben jene vorbeiziehenden Schiffsnamen. Sie notiert nicht nur die Namen, sondern hält mit der Kamera die Typographie des Schriftzugs fest. Übertragen auf Papier verlieren die Wörter das Beiläufige. „Odysseus“, „Atoll Lagun“, „Adventurer“: Das Nebeneinander von Exotik und Banalität, von Sehnsüchten und Projektionen wird durch die Typographie sichtbarer, ein weiterer Hinweis auf die gemeinsamen Wurzeln von Schrift und Bild.

In der Videoarbeit „Shouf“ hingegen versuchte die Künstlerin in verschiedenen Variationen ein arabisches Wort zu schreiben, das so viel heißt wie „Sieh“, „Schau mal“. Sie entwickelt acht zeitlich aufeinander abgestimmte Variationen, von denen sie jeweils zwei durch eine Split-Screen-Technik verbindet, so dass der Eindruck entsteht, sie würde beidseitig schreiben. Sie beginnt mit lateinischen Buchstaben, versucht es mit der linken und mit der rechten Hand und genauso linkshändig und rechtshändig in Spiegelschrift, sowie mit arabischen Buchstaben, die sie ebenso in Spiegelschrift übersetzt. Aus der Spiegelung entsteht jeweils etwas Neues. Die komplexe Motorik der Hände und deren Kontrolle durch das Auge werden offenkundig.
Das Zeichnen fungiert im Werk von Katrin Ströbel als Brücke, als Ergänzung, die als Verbund von Schrift und Sprache Wirklichkeitskomplexe erschließt, die nicht restlos sprachlich formulierbar sind. Das Zeichnen, die Spiegelung von Realitäten über das Zeichnen, erscheint als „missing link“ einer an ihre Grenzen gestoßenen Wissensgesellschaft. Beim Schreiben, das in der arabischen Schrift übergeht ins Zeichnen, zelebriert die Künstlerin den Zusammenhang zwischen Bild und Wort. An einer Stelle bei Leroi-Gourhan heißt es: „Die Hand setzt die Sprache frei.“3 Es gibt kaum ein besseres Motto für ein Werk, das sich der Welt der Schrift und des Bilds über die Zeichnung nähert.

Carmela Thiele

Veröffentlicht in: Ausst.-Kat. Suzie Wong meets Becky Thatcher, 7 Räume von Dorothea Schulz und Katrin Ströbel, Städtische Galerie Offenburg, 2010

1André Leroi-Gourhan, Hand und Wort, Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1988, S. 42
2Ebenda, S. 240 ff.
3Ebenda, S. 42
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